Erinnerungen von Josef Poinstingl aus Hörmanns

Es ist Samstag im Juli 2018, früher Nachmittag. Wir sind gerade auf Waldviertel Tour. Einsetzender Regen lockt uns in das Gasthaus Spatschek in Hörmanns. Dort trifft sich eine Runde älterer Herren und eine Dame zum gemütlichen Beisammensein bei Kaffee und Bier. Wir setzen uns an den Nebentisch. Unsere Blicke wandern entlang längst vergessener Werbetafeln, darunter Afri Cola und Zwettler Goldzwerg Pils. Derart inspiriert entscheiden uns für eine erste Seidelrunde. Das Wirtshaus scheint schon etwas in die Jahre gekommen: Die Einrichtung spannt einen Bogen von den späten 1960er bis in die frühen 1980er-Jahre. Die zwei Kegelbahnen bleiben an diesem Samstagnachmittag frei. Ernestine Spatschek hat im Gasthaus „Zum Walther von der Vogelweide“ alles im Griff. Sie erkennt bereits am Gesichtsausdruck ihrer Gäste, was sie wünschen, bedient und kassiert unermüdlich und auf eine ruhige, ja fast beruhigende Art.

Als ein älterer Herr mit Gehstock das Gastzimmer betritt, wird es still im Schankraum. Josef Poinstingl gehört zu den Ältesten im Ort. Wir bieten ihm einen Sitzplatz an. Während einiger Begrüßungsworte stellt sich heraus, dass mein Großvater, Ferdinand Neulinger, 1910 – 1989, Spengler in Zwettl, einst auch den Kirchturm von Hörmanns saniert hatte. Die Ortsgemeinde, so Poinstingl weiter, habe den Spenglermeister Neulinger noch bis heute in bester Erinnerung.
Das Gespräch entwickelt sich munter weiter und es stellt sich bald heraus, dass Poinstingl eigentlich aus Oberndorf stammt, eine Siedlung, die auf dem Gebiet des heutigen Truppenübungsplatzes liegt. Freundlich fragt uns der ältere Herr, ob uns interessiert, was hier während des Krieges und der Zeit der sowjetischen Besatzung passiert ist. So werden wir – nach und nach – Zeugen von seinen historischen Schilderungen. Poinstingl erzählt langsam und wählt seine Worte mit Bedacht. Er beginnt mit der Enteignung durch die Nazis und die, bis heute fehlende, Wiedergutmachung. Er erzählt von einem mit seinen Eltern befreundeten jüdischen Kaufmann, der es gewagt hatte, in Hörmanns zu bleiben, weil er darauf vertraute, immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben. Poinstingl fällt es schwer, von der Deportation des stolzen, respektierten Hörmannser Bürgers zu erzählen. Hellwach wird Poinstingl, als er von seiner Zeit in russischer Gefangenschaft erzählt. Anstelle seines Vaters habe er die Haft angetreten. Einige Male denkt er, er müsse sterben, weil „sie halt immer wieder jemanden erschießen müssen.“ Glücklicherweise sprach Poinstingl ein paar Worte Russisch. Dies verschaffte ihm noch als Gefangener eine Anstellung bei der Besatzungsbehörde. Er erhält auch einen sowjetischen Dienstausweis und findet Beschäftigung nach Verbüßung der für den Vater übernommenen Strafe. Poinstingl legt offen, dass, obwohl viele Bürger Nazis gewesen wären, die sowjetischen Besatzer die Bevölkerung aber im Großen und Ganzen gut behandelt hat.
Wir hören einen Zeitzeugen, der sich nicht verstellt und versucht hat, richtig zu leben. Wir sind uns sicher, es ist ihm gelungen.

Anton F. Neulinger

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